Dienstag, 5. Juli 2022

Schwarzbuch Pflege

Der ein oder andere hat vielleicht schon mal mitbekommen, dass ich über 30 Jahre als Krankenschwester gearbeitet habe. Nach dem Examen auf einer internistischen Station mit Schwerpunkt Nephrologie. Später wechselte ich das Krankenhaus und die Fachrichtung, arbeitete über 18 Jahre begeistert in der Chirurgie: Allgemein- dann Unfallchirurgie. Seit 2013 wieder internistisch, diesmal mit gastro-enterologischem Schwerpunkt. 

Die Arbeit war immer anstrengend, körperlich, geistig und seelisch herausfordernd. Mein Versuch, eine Familie zu gründen, scheiterte. Mein Nachwuchs musste früh alleine Verantwortung für sich übernehmen lernen, ein "Schlüsselkind". 

Dann kam Corona. Und die Situation auf Station verschärfte sich noch einmal. Kolleg*innen wurden Langzeitkrank, nicht unbedingt an Covid-19. Es gibt auch andere Krankheiten. Andere hörten komplett auf, weil sie in ihren Familien gebraucht wurden. Oder reduzierten ihren Stellenanteil weiter. Es fehlte Personal. Ständig wurde wieder auch im Urlaub und im Frei angerufen, es wären Dienste nicht besetzt, "kannst Du heute den Spätdienst übernehmen?" Oft habe ich abgesagt, weil ich meine Kraft selber zur Regeneration benötigte. Oft war ich selber krank und hatte gegenüber meinen Kolleg*innen ein schlechtes Gewissen, weil sie nun für mich mitarbeiten mussten. 

Ein Teufelskreis. 27 Betten auf Station, im Spätdienst 2 Menschen mit Examen. Teilweise ohne "Hilfskräfte". In Spitzenzeiten wurde unsere Etage mit 56 Betten (= zwei Stationen) zusammen gelegt, die Etage durch drei geteilt und der Spätdienst mit drei Examinierten durchgezogen. Für jeden Bereich eine examiniert Fachkraft. 

Mehr als einmal stand ich weinend vor dem Chefarzt und habe ihm erklärt, dass menschenwürdige Arbeit so nicht leistbar ist und er so nicht gepflegt werden will. "Schwester Eva, Sie wissen doch, nur ein belegtes Bett ist ein gutes Bett!" war seine Antwort. Das Entlassmanagement funktioniert nicht, viele Assistenzärzte sind der Sprache nicht mächtig, kommen frisch von einer Universität, haben keine klinische Erfahrung, sind guten Willens, benötigen Anleitung und Einarbeitung. Die Oberärzte arbeiten selber am Limit und darüber hinaus und haben für ihre Assistenzärzte nicht die notwendige Zeit - es ist learning by doing. 

Als Folge werden Patienten erst nachmittags entlassen. Die neuen Patienten warten teilweise schon seit dem frühen Morgen auf ein Bett, werden notfalls im Bett in ein Zimmer zu gestellt, haben keine Klingel. Die Mitpatienten werden gebeten, im Notfall zu melden... Also werden Patienten auch nachmittags entlassen und aufgenommen, Bettplätze aufbereitet, Dokumentation fertig gestellt, Medikamente gerichtet und verabreicht, Mahlzeiten verteilt und das benutzte Geschirr wieder eingesammelt...

Patienten, die mit Verdacht auf Covid kommen, werden zunächst auf Station isoliert aufgenommen, bis das Abstrichergebnis vom Labor da ist. Kann 24h dauern. Genauso werden Patienten mit Verdacht auf ansteckende Erkrankungen (z. B. Noro-Virus, MRSA-Befall, etc.) auf Station isoliert. Bedeutet für die Pflegefachperson: jedesmal neue Schutzkleidung anlegen, je nach Erfordernissen mehr oder weniger umfangreich. Die Bilder können in den Internet-Suchmaschinen gefunden werden.

Wenn Patienten in diesen Zimmern klingeln, muss ich meine Arbeit liegen lassen, die Schutzkleidung anziehen, in das Zimmer hinein gehen, z. B. dem Patienten auf den WC-Stuhl helfen. Die Schutzkleidung im Zimmer ausziehen, desinfizieren, das Zimmer verlassen. Wenn der Patient fertig ist und sich meldet, heißt es wieder Schutzkleidung anziehen, in das Zimmer gehen, Patienten ggf. bei der Intimtoilette behilflich sein und auf Wunsch ins Bett helfen. Diese Transfers sind je nach Situation körperlich eine Herausforderung. Wieder Schutzkleidung ausziehen, desinfizieren, das Zimmer verlassen, dabei z. B. die Fäkalien mitnehmen und im Pflegearbeitsraum entsorgen. 

Es dauert einfach. Bei jedem Klingeln hoffe ich, dass der Patient nicht gestürzt ist... 

Während der Pandemie musst ich erleben das Patienten, die im Sterbeprozess waren, nicht begleitet werden konnten, sie starben alleine. Eine Patientin holte ich von der Untersuchung ab, sie sprach noch mit mir, Als ich Stunden später in das Zimmer kam (ich habe es vorher nicht geschafft), war sie verstorben. Scheinbar bedingt durch die während der Untersuchung applizierten Sedativa war es zu einem Krampfanfall gekommen. Hätte ich oder jemand anderes früher in das Zimmer gehen können, wäre eine adäquate Betreuung unter Umständen möglich gewesen. 

Ich vergesse auch nicht die Dienste, in denen ich mit 18 Patienten alleine war. Da ist keine Rede von Pflege, es wird nur noch gerannt. Meine jahrelange Erfahrung kennt die Abläufe und diese Routine lässt mich die Dienste überleben. Ich kann nicht auf Bedürfnisse - berechtigt oder nicht - eingehen. Wenn von diesen 18 Patienten drei Menschen intensive Pflege benötigen, können bei 15 Patienten nur noch essentielle Handlungen durchgeführt werden (z. B. Gabe von i.v. Medikamenten, BZ-Messungen und Insulin-Gabe). Drei Menschen benötigen meine Unterstützung. Sie können nicht alleine essen und bekommen sowohl Getränke als auch das Essen angereicht. Dazu müssen sie positioniert werden. Der nächste Positionswechsel erfolgt, weil sie kein WC benutzen können und deshalb Inkontinenzhosen tragen. Es sind Menschen, aber meine Kraft und Technik reicht trotz Kinästhetik und Gleitmatten nicht wirklich, um eine menschenwürdige Versorgung sicher zu stellen. Weil keiner zum Helfen da ist. Als Folge liegen sie teilweise länger als gut ist in ihren Ausscheidungen. Das wiederum hat Folgen für den Hautzustand, es entstehen Dekubiti... Leute, ich kann so nicht arbeiten!

Hinzu kommen Patienten, die sich für Kunden halten. Schließlich bezahlen sie mein Gehalt! Der Ton ist in den letzten Jahren fordernder, teilweise aggressiver geworden, "jetzt", "sofort", "Bringen Sie" - normale Umgangsformen scheinen unbekannter zu werden. Damit meine ich "Bitte" und "Danke", "Guten Tag" - nicht dieses scheinheilige Klatschen, den Alibi-Lavendel (hatten wir nicht, es gab eine gesponserte Dose Nivea-Creme)...

Wie oft saß ich nach den Diensten erschöpft im Auto und weinte, weil ich Menschen nicht die notwendige Hilfe zukommen lassen konnte. Hilfe und Unterstützung, nicht vorhandene Fähigkeiten substituieren - das ist eigentlich meine Arbeit! Ständig dieses schlechte Gewissen! 

Immer in der Gewissheit, dass ich zwar das mir menschenmögliche getan habe, aber vieles dabei auf der Strecke geblieben ist. Wie dankbar war ich, wenn ich in einem Dienst keine weiteren Notfälle hatte - jeder bekam genug Sauerstoff, keiner musste reanimiert werden, bei Schichtende lebten die Menschen noch...

"Schwester Eva, Sie mit Ihrer Erfahrung schaffen das!" Ja, toll, ich bin nicht Superwoman. Der Herrgott hat mir zwei Hände gegeben, zwei Füße - keine Flügel. Standardausführung. Über diese Zustände bin ich krank geworden. Und kann derzeit meinen Beruf nicht ausüben. Unter diesen Umständen will ich ihn auch nicht ausüben. 

#pflegteuchdochalleine

P.S.: Selbstverständlich schrieb ich Qualitätsanzeigen. Täglich. 















xxx

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